Baum des Jahres 2014: Die Trauben-Eiche
Sie kann uralt werden, ist sagenumwoben und bei Tieren und Menschen gleich beliebt: Die preisgekrönte Trauben-Eiche
"Eiche, deine dunkeln Zweige ragen
Stolz empor aus längst vergangnen Tagen,
Geister wandeln durch dein ästig Haus;
Sieben Menschenalter sahst du schreiten,
Und wie Harfen aus den alten Zeiten
Rauscht es durch dein Laub im Sturmgebraus."
Ritter Hermann von Lingg (1820-1905)
In der Tat umgibt diesen mächtigen Baum eine außergewöhnliche Aura. Und nicht zuletzt deshalb hat die "Dr. Silvius Wodarz Stiftung" die Trauben-Eiche mit dem lateinischen Namen Quercus petraea zum Baum des Jahres 2014 gekürt. Ein kleines Jubiläum, denn vor 25 Jahren, als die Auszeichnung erstmals vergeben wurde, hat man die eng verwandte Stiel-Eiche zum Baum des Jahres 1989 ernannt. Der wesentliche Unterscheid liegt in der Form der Früchte: Während die Eicheln der Stiel-Eiche an längeren Stielen hängen, wachsen die Eicheln der Trauben-Eiche direkt an Ast und Blatt und erinnern damit an die gehäufte Form von Trauben.
Der große, sommergrüne Laubbaum kann bis zu 40 Meter hoch, weit mehr als drei Meter dick und an die 800 Jahre alt werden. Einigen Eichen-Exemplaren sagt man sogar an die 1000 Lenze nach: Mit dabei sind die Femeiche von Raesfeld in Westfalen, die Ivenacker Eichen in Mecklenburg-Vorpommern oder die Begräbniseiche von Nöbdenitz in Thüringen. Und erst wenn die Trauben-Eiche etwa 120 Jahre alt ist, ist ihr Wachstum abgeschlossen. Diese andere Zeitlichkeit macht sie für die Menschen seit jeher zum Sinnbild von Standfestigkeit, Kraft und Stärke, umgeben von einem magischem Mythos und sagenumwobenen Volksglauben. So war der Jahrhunderte überdauernde Baum den Germanen einst sogar heilig: Die "Donareiche" war ein dem germanischen Gott Donar, besser bekannt als Thor, gewidmeter Baum im heutigen Nordhessen. Ein Weltenbaum, der das ganze All auf seiner mächtigen Krone durch alle Zeiten trägt. Ausgestattet mit dieser Autorität diente die Eiche auch als Gerichtsbaum.
In der Trauben-Eiche verbinden sich Licht und Leben auf besondere Weise. Denn die Sonne, die sie in Anspruch nimmt um in die Höhe zu wachsen, teilt sie mit den Lebewesen am Boden. Als "Tierheim der Natur" bezeichnet man diesen Baum, weil sich unter seiner lichtdurchlässigen Krone auffallend viele Insekten, Pilze und Waldtiere tummeln. Dass ihr Wasserhaushalt wenig empfindlich auf Hitzeperioden reagiert, hat ihr unter anderem zur Auszeichnung als "Baum des Jahres 2014" verholfen: "Wegen ihrer Robustheit gegenüber Trockenheit und Wärme hat sie möglicherweise eine größere Zukunft als die Stiel-Eiche", begründete Stiftungspräsident Silvius Wodarz die Entscheidung mit Blick auf den Klimawandel.
Aber neben dem Lebensspender Licht fällt noch etwas anderes ab, was den Eichen einen besonderen Stellenwert bei Mensch und Tier einräumt: Die Eicheln sind derart nahrhaft, dass man die Schweine einst zur Mast in die Wälder schickte und dann zu sagen pflegte, dass "auf den Eichen der beste Schinken wachse". Aus bis zu 38 % Stärke besteht die fast drei Zentimeter lange Frucht der Trauben-Eiche und diente neben Eichhörnchen, Eichelhäher und anderen Wald-Gourmets auch schon dem hungerleidenden Menschen in Notzeiten als Kaffeeersatz, Mehl und Breizutat – bitter, aber sättigend.
Doch als im 19. Jahrhundert der großflächige Feldfutterbau Einzug in die Landwirtschaft erhielt, stand nicht länger die Eichel, sondern das wertvolle Holz der Trauben-Eiche im Mittelpunkt der Nutzung durch den Menschen. Die fäulnishemmenden Stoffe im wasserundurchlässigen Kernholz machen es hart und beständig. Überall wo solide Dauerhaftigkeit unabdingbar war, wurde Eichenholz eingesetzt: Im Schiffsbau, im Fachwerkbau und bei Pfahlbauten wie der Hamburger Speicherstadt. So ruht der größte Lagerhauskomplex der Welt auf unerschütterlichen Eichenpfählen, die vor mehr als hundert Jahren in den sandigen Grund der Elbe gerammt wurden.
Ebenfalls getragen von Eichenholz ist der Geschmack besonderer Weine: Das "Barrique", von dem französischen Wort "baril" für Fässchen, gibt dem darin gereiften Wein eine tanninreiche Holznote. Diese Tannine, oder Gerbstoffe, sind seit jeher ein wichtiger Bestandteil der Lederverarbeitung. Hierzu bewirtschaftet man die Trauben-Eiche als so genannten Niederwald, der bereits nach 15 bis 20 Jahren gerodet wird. Die anschließend abgeschälte und getrocknete Rinde ist mit ihrem hohen Gerbsäureanteil von bis zu 20 % auch in der Medizin von Bedeutung: Sie ist blut- und juckreizstillend, antiseptisch, hilft gegen Hauterkrankungen, Fußschweißbildung und Frostschäden.
Ein Allround-Talent, dessen natürliche Verbreitung von den britischen Inseln bis nach Kleinasien reicht. Auf ganz unterschiedlichen Terrains entfalten sich seine kräftigen Pfahlwurzeln rund um eine steil nach unten wachsende Hauptwurzel und geben der Trauben-Eiche ihre charakteristische Sturmfestigkeit. So können edle Furnierholzbestände entstehen, die wertvollsten von ihnen stehen im Spessart und im Pfälzer Wald. Aber die vielseitige Trauben-Eiche besitzt einen ganz natürlichen Selbstschutz vor allzu eifriger Nutzung durch den produktorientierten Endverbraucher: Ihr Leben überdauert bis zu 30 Menschen-Generationen und damit zwingt sie zu langfristigem, nachhaltigem Denken. Oder um mit den Worten des Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry zu schließen: "Wenn man eine Eiche pflanzt, darf man nicht die Hoffnung hegen, nächstens in ihrem Schatten zu ruhen."
mpr