Die Kastanie, der Kies und der Biergarten
Eine Geschichte aus alter, bayerischer Zeit: Über Licht und Schatten, Baum und Mensch, Bier und Sonne - und Benjamin Franklin.
"Bier ist der Beweis, dass Gott uns liebt und will, dass wir glücklich sind."
Benjamin Franklin (1706-1790)
Diese Worte sprach einst der berühmte Benjamin Franklin, der sein Leben der Aufgabe widmete, das Gemeinwesen zu fördern und der als ausgesprochener Genussmensch galt. Wie wohl hätte sich der Erfinder des Blitzableiters und Kämpfer gegen die Sklaverei in einem echten bayerischen Biergarten gefühlt. Dem wird nämlich ganz offiziell eine "wichtige soziale und kommunikative Funktion" bescheinigt – also ausgesprochen gemeinwohlfördernd und herrlich genüsslich obendrein.
Was aber hat die Kastanie mit dieser Geschichte zu tun? Sie hat den Biergarten erst möglich gemacht. Um das zu verstehen, muss man bis ins 16. Jahrhundert zurück, als der Herzog Albrecht V. von Bayern zum Handeln gezwungen war: Jeden Sommer brachen in der dicht bebauten, holzigen Münchner Innenstadt verheerende Brände aus, die beim Anfeuern der Siedekessel in den Brauereien entstanden waren. Zorn der Bürger hin oder her, ein Dekret musste her, das den Brauern in der Zeit zwischen dem Tag des heiligen Michael und dem des heiligen Georg das Bierbrauen verbot. Mit anderen Worten: Am 23. April wurden den Brauern die Kessel versiegelt und erst am 29. September wieder geöffnet.
Ein Sommer ohne Bier? Nicht mit den Bayern. Bier auf Vorrat, das war die Lösung. Zum einen wurde ein untergäriges und deshalb etwas länger haltbares "Märzenbier" gebraut - benannt nach dem Monat bevor die Sommerbraupause in Kraft trat. Aber auch das muss gekühlt werden, damit es nicht verdirbt. Also wurden zum anderen "Märzenkeller" neben den Brauereien in die Erde gegraben - aber schon bald stieß man auf den hohen Münchner Grundwasserspiegel. Es galt die geringe Tiefe durch Sonnenschutz von oben auszugleichen: Kies und Kastanien beschatteten die Kellerdecken und halfen die darunter liegenden Holzfässer zu kühlen. Diese wurden zusätzlich auf Stangeneis gelegt: So nennt man die bis zu 270 kg schweren Eisblöcke, welche während des Frostes aus den naheliegenden Alpen und Seen geschlagen wurden.
Weil die Gemeine Rosskastanie schnell wächst, durch ihre großen, breiten Blätter viel Schatten spendet und außergewöhnlich flach wurzelt, blieben die Gewölbekeller vom Wurzelwerk unbeschadet und wurden optimal vor Sonneneinstrahlung geschützt. Ein solch kühles Plätzchen weiß aber auch der Mensch zu schätzen, weshalb man sich schon bald unter den bis zu 36 Meter hohen, grünen Riesen tummelte. Und weil der Bayer bekanntlich ein geschäftstüchtiger Zeitgenosse ist, haben die Brauer einfach Stühle und Tische unter die Kastanien gestellt und das in den Kellern frisch gezapfte Bier ein Stockwerk höher an die durstigen Münchner verkauft. Hohe Effizienz durch kürzeste Lieferwege – das Geschäft boomte, je heißer die Sommer waren.
1811 kletterten die Temperaturen auf rekordverdächtige 38,8 Grad Celsius und nur im Schutz der Kastanien war die Gluthitze mit einer kühlen Maß Bier in der Hand auszuhalten. Es war nicht mal dran zu denken, in ein stickiges Wirtshaus zu gehen, denn Essen wurde über den Kellern ja mittlerweile auch schon serviert. "So ned!", beschwerten sich die von Umsatzeinbußen geplagten Münchner Wirte in diesem Sommer bei ihrem König Maximilian I. und hatten Erfolg: "Den hiesigen Bierbrauern gestattet seyn solle, auf ihren eigenen Märzenkellern in den Monaten Juni, Juli, August und September selbst gebrautes Märzenbier in Minuto zu verschleißen, und ihre Gäste dortselbst mit Bier u. Brod zu bedienen. Das Abreichen von Speisen und anderen Getränken bleibt ihnen aber ausdrücklich verboten. Verord. v. 4. Jänner 1812“ (Originaltext der Verfügung)
Der Schutz der Interessen der Gastwirte war gewahrt und der Biergarten geboren. Noch heute bringt man sich seine Brotzeit von zu Hause in den Biergarten mit und kauft dem Brauer nur das Bier und die Breze ab – auch wenn natürlich mittlerweile zahlreiche Speisen zum Verkauf angeboten werden.
Wenn man heute "auf " dem Augustinerkeller, dem Paulaner am Nockherberg oder dem Hofbräukeller in Haidhausen sitzt und der Kies unter den Schuhen knirscht, sollte man einen Blick in das dichte Blätterwerk der mächtig wogenden Kastanienkronen über einem werfen und die Hand auf einen der an die zwei Meter dicken Stämme legen: Es überkommt einen das erhebende Gefühl, dass in diesen ältesten Biergärten Münchens schon seit Jahrhunderten getrunken, gelacht und gelebt wird.
mpr